Freitag, 14. August 2015

Prolog

„DAS WAR´S.
Wir sind alle 4 gesund und am Leben. Wir sind nicht mal nass geworden.
Wenn die Versicherung uns das Geld erstattet nehme ich meine Kinder und meinen Mann, wir verlassen Norwegen und gehen nach Deutschland zurück. Dort mache ich mich selbständig, kaufe ein Haus und die Kinder gehen in eine normale Schule...“

Einige Stunden zuvor war unser Schiff gesunken. Innerhalb von 30 Minuten lief es voll. Jetzt lag ich auf dem Bett in irgendeinem Hotel, in das man mich und die Kinder gebracht hatte, starrte an die Decke und dachte nach.

Thomas und ich hatten am 25.04.2014 morgens gegen halb sechs abgelegt und waren mit unserer Feeling 486 aus dem Hafen von Vieste/Italien motort. Wir wollten nach nach Bari /Brindisi/raus aus der Adria. Der Himmel war leicht bedeckt und wir hatten 15 Knoten Wind aus nördlicher Richtung. 
Die Kinder (zu dem Zeitpunkt 2 und 4 Jahre alt) schliefen noch in der Backbord-seitigen Achterkabine, Thomas und ich befanden uns im Cockpit.
Als wir gerade aus dem inneren Bereich des Hafens raus waren, fuhr Thomas ein bisschen mehr nach rechts, um einem einheimischen Fischer beim Einlaufen aus dem Weg zu gehen.

Plötzlich gab es ein sehr lautes Scharren und Krachen. Wir hatten Grundberührung.
Es hörte sich an, als wären wir auf einen Fels gefahren. Es war aber wohl nur Sand – in der Hafenausfahrt. Wir haben versucht uns frei zu fahren, aber nichts half.

Nach einer gefühlten Ewigkeit – im Nachhinein betrachtet waren es wohl nur 2 oder 3 Minuten – ging ich runter, um die Kinder vorsichtshalber ins Cockpit zu holen. Als ich unten ankam, stand ich knöcheltief im Wasser. Auf dem Weg nach unten hatte ich gebrüllt: „Aufwachen, aufwachen, ihr müsst hier raus!“, so dass mir Mathis (4) schon entgegen kam und dann auch selbstständig den Niedergang hochkletterte. Währenddessen suchte ich meine Tochter. Emma (2) schlief immer noch und hatte sich über Nacht ganz hinten in die letzte Ecke gerobbt. Ich musste sie unter einem Wust aus Decken und Kissen ertasten. Irgendwann erwischte ich einen ihrer Füße, an dem ich sie aus dem Bett zog. Sie war verständlicherweise schockiert und weinte, als ich sie nach oben trug.
Die Kinder setzte ich auf die Steuerbordbank im Cockpit und schärfte ihnen ein ja nicht dort weg zu gehen. Sie weinten beide fürchterlich, aber dieses eine Mal hörten sie auf mich.
Thomas sagte: „Guck mal, der Fischer ist noch da drüben. Vielleicht kommt er uns zur Hilfe.“
Ich habe nur, wie durch einen Schleier, das Fischerboot gesehen, mit einem Mann darauf, der dort stand, glotzte und nichts weiter tat. Daraufhin informierte ich Thomas, dass ich jetzt die Rettungsinsel rausholen würde.
Für die Rettungsinsel gab es ein relativ leicht zu öffnendes Fach, gleich neben der Badeplattform. Die Leine zur Insel war ordnungsgemäß am Schiff festgemacht. Der Container, in dem sie sich befand, dümpelte dann im ein Meter hohen Schwell herum, ohne aufzugehen. Also zog ich an der Leine – 9 Meter können sehr, sehr lang sein! Es dauerte ewig bis die Insel auf poppte. Der Versuch die Rettungsinsel näher ans Schiff heran zu ziehen scheiterte kläglich, so dass ich den Abstand zwischen Schiff und Insel nur etwas verkürzen konnte, indem ich den Rest der Leine an der Reling festknotete.
Glücklicherweise hatte ich vorab darauf bestanden eine Rettungsinsel zu kaufen – und zwar die Beste. Viking RescYou Pro (für 6 Pers.) - die ist perfekt! Ich würde nie eine andere kaufen.

Inzwischen waren Mathis und Emma echt in Panik. Sie haben geweint und geschrien. Das Schiff hatte wohl vorübergehend Schlagseite nach Backbord bekommen, so dass Wasser überkam. Das machte ihnen wirklich Angst. Die Erinnerung daran ist sehr wage. Ich befand mich in einer Wolke aus Watte, die alles ausblendete, was mich handlungsunfähig gemacht hätte. Sonst hätte ich wohl meine Kinder in die Arme genommen und gewartet bis uns jemand rettet. So aber konnte ich mit Thomas klären, wie wir von Bord gehen. Mein Überlebensinstinkt, der sich auf meine ganze Familie erstreckt, funktioniert also ausgezeichnet.
Die Rettungsinsel wurde in der Zwischenzeit vom Schwell an die Steuerbordseite des Schiffs geschwemmt. Wir hatten abgemacht, dass erst ich auf die Rettungsinsel wechsle, so dass Thomas mir Mathis und Emma herüberreichen konnte.
Keine Ahnung wie ich auf die Insel kam, aber als ich versuchte die Schwell abgewandte Seite der Insel zu schließen, damit uns nicht eines der Kinder auf der einen Seite rein und auf der anderen Seite gleich wieder raus fällt, kam mir endlich der Gedanke, dass die Beiden immer noch keine Rettungswesten anhatten!
„Zieh den Kindern die Rettungswesten an, bevor du sie mir rüber gibst!“
„Ich gebe sie dir schnell so.“
Das ging gar nicht! Was, wenn uns eines aus den Händen rutscht? Selbst ohne diesen hohen Schwell wären sie verloren. Sie waren beide zu klein, zu schwach und konnten nicht schwimmen. Selbst wenn, wir würden sie nie wieder finden... Sie wären tot.
„NEIN, DU ZIEHST DENEN RETTUNGSWESTEN AN, BEVOR DU SIE MIR GIBST! Und dann reichst du mir erst die Leinen und wartest, bis ich mir die ums Handgelenk gewickelt habe, bevor du das Kind loslässt!“
Ich war wohl bestimmt genug in diesem Punkt. Es bedurfte jedenfalls keiner weiteren Diskussion.
Wir hatten an den Kinderrettungswesten Fenderleinen mit Karabinerhaken befestigt, damit sich die Kinder an Bord einpicken konnten. Diese Leinen wickelte ich mir nun ums Handgelenk während ich mich mit dem anderen Arm am „Überrollbügel“ der Insel festhielt. Durch die Wellen schlug die Insel recht heftig, und obwohl der „Überrollbügel“ nur ein dicker, aufgepumpter Gummischlauch war, knickte er nicht ein Mal ein. Ich konnte mich daran festhalten, wie an einem Stahlgestänge. So kamen Mathis und Emma gesund und trockenen Fußes auf die Rettungsinsel. Beide hatten immer noch Angst, waren aber nicht mehr so panisch. Ich trug Mathis auf auf Emma aufzupassen. Er nahm sie auf seinen Schoß und beide beruhigten sich etwas. Sie weinten und schrien nicht mehr.
Nachdem wir drei an Bord der Rettungsinsel waren sagte Thomas, er komme gleich wieder und verschwand unter Deck. Das war etwas beängstigend, schließlich hätte das Schiff umschlagen können. Er versuchte trockene Kleidung für die Kinder zu holen und diverse Geräte zu retten.
Als Thomas unter Deck ankam, stand ihm das Wasser schon bis zur Hüfte.
An trockenen Kinderklamotten hat er leider nur Unterwäsche erwischen können. Die Telefone, iPads und der Laptop waren aber erst mal im Trockenen. Nun kam auch Thomas irgendwie auf die Insel. Das Wasser, dass er von unter Deck „mitgebracht“ hatte, beschädigte nun die Geräte teilweise und Mathis saß mit seinem Schlafanzug im Nassen. Als Thomas und ich endlich das Messer gefunden hatten, das zum Leine durchschneiden am Ausgang befestigt war und Thomas uns damit vom Schiff löste, zitterte Mathis schon vor Kälte (und durch den Schock nehme ich an). Ich nahm also Emma auf den Schoß unter meine Jacke und Thomas nahm Mathis auf die gleiche Weise.
Der Schwell spülte uns derweil über die Sandbank direkt auf die wartende Küstenwache zu.

Die Küstenwache ist direkt im Hafen von Vieste stationiert.Wie wir später erfuhren hatte ein Passant, der so früh schon auf der Küstenstraße unterwegs war, das Unglück gesehen und geistesgegenwärtig die Küstenwache alarmiert. Die ist dann mit dem größten zur Verfügung stehenden Schiff ausgelaufen. Als sie aus der Hafenausfahrt kamen und uns sahen, sind sie gleich wieder umgedreht. Kurz darauf kamen sie mit einem viel kleineren Boot wieder zurück, um die vorgelagerte Insel zu umrunden und auf der anderen Seite der Sandbank auf uns zu warten.

Auf dem Boot der Küstenwache ging es den Kindern schon wieder recht gut. Emma konnte ja noch nicht wirklich sprechen, kuschelte sich aber an mich und guckte recht interessiert. Mathis hatte Fragen über das Boot der Küstenwache und darüber, warum die Rettungsinsel auf diese und nicht auf jene Weise geschleppt wurde. Ich dachte die ganze Fahrt zum Hafen immer wieder: „Wir sind alle am Leben, gesund und zusammen. Alles wird gut.“

An Land wurde uns ein Fahrer gestellt, der die Kinder und mich ins Viester Krankenhaus fuhr. Thomas musste zum Verhör bei der Küstenwache. Da dort alle ausschließlich italienisch sprachen musste erst mal ein Dolmetscher her. Das gab Thomas Zeit, um die Versicherung anzurufen und die Bergung des Schiffes in die Wege zu leiten.
Das Dolmetschen übernahm schließlich Katarina, die Besitzerin eines Hafenrestaurants und eines Anlegestegs im Hafen und Stützpunktleiterin von Transocean. Außerdem heimgekehrte italienischstämmige Kanadierin, die also beide Sprachen – italienisch und englisch – muttersprachlich sprechen kann. Katarina ist sehr kompetent! Wenn ihr nach Vieste kommen solltet:
Geht bei ihr essen, legt euer Schiff an ihren Steg und lasst euch von ihr beraten, wenn ihr Hilfe braucht.

Thomas wurde in einem anderthalb tägigen Verhör unter anderem gefragt, ob er auch so wäre wie Francesco Schettino. Wer? Der Kapitän der Costa Concordia. Aha?
Nun, die eigentliche Frage war, ob er als letzter von Bord gegangen war. Thomas war als Skipper angegeben und musste somit als letzter von Bord gehen. Gut, dass die Kinder noch so klein und leicht waren. Sonst hätte es durchaus sein können, dass Thomas als erster von Bord gegangen wäre. In dem Moment haben wir nicht über so etwas nachgedacht. Glück gehabt...

Wir anderen drei sind in der Notaufnahme des winzigen Viester Krankenhauses in einen Raum mit zwei Betten gekommen. Dort musste ich mich jetzt doch mal hinlegen. Das ging aber nicht sehr lange. Emma hatte zunächst gefroren und wurde, in „Goldfolie“ und Decken eingepackt, auf das andere Bett gelegt. Mathis hatte keine Lust zu liegen und spazierte umher, um das Zimmer zu inspizieren. Emma wurde es langweilig und sie begann sich auch für die Umgebung zu interessieren. Sie rollte in ihrem Krankenbett (ohne hochgestellte Seitenteile) herum und begann sich aus den Decken zu schälen. Obwohl mir inzwischen etwas flau im Magen war, stand ich auf, um Emma auf den Boden zu stellen. Nicht, dass sich das Kind nach geglückter Rettung nun doch noch den Kopf aufgeschlagen hätte oder schlimmeres...
Jetzt rannten beide Kinder im Zimmer hin und her, fanden den Wasserhahn, das Tropfgestell, zwei Türen, hinter denen auch noch was sein musste... Zum Beispiel weitere Patienten, denen man lauter Fragen stellen konnte, oder einen langen Gang, in dem man prima rennen konnte. Ich hatte deshalb keine Zeit schlapp zu machen.
Nachdem ich mich eine Weile gefragt hatte, wo ich Windeln, was zum Anziehen für die Kinder und etwas zum Frühstücken herbekomme (die Kinder hatten ja noch nicht mal gefrühstückt), kam eine Frau herein, die mir zu verstehen gab, dass sie nur für uns zuständig sei. Ich müsse ihr nur sagen, was ich brauche.
Die Kirche hatte von dem Unglück gehört und uns diese Frau geschickt, deren Namen ich leider nicht mehr weiß. Sie hat uns aus der Kleiderkammer der Kirche drei Säcke Kleidung besorgt, aus denen ich zumindest die Kinder einkleiden konnte. Außerdem gab es Frühstück, Kekse, was zu trinken und Windeln. Wir waren also erst mal versorgt.
Zwischendurch kam noch ein Notarzt, der besorgt fragte, wie lange wir im Wasser waren. Ich sagte, dass niemand im Wasser war, wir wären gesund. Das konnte er gar nicht glauben.
Thomas und ich konnten uns zum Glück zwischendurch verständigen, da er ja die Telefone gerettet hatte. Meins hatte ein bischen Wasser abbekommen, weshalb es ein paar Zicken machte, aber telefonieren funktionierte.
Während der Mittagspause der Küstenwache kam Thomas kurz in der Notaufnahme vorbei und nahm sich auch noch eine Hose und ein paar Schuhe aus dem Kirchenfundus. Das Verhör hatte bis dahin in nassen Sachen stattgefunden... Er ließ sich dann gleich wieder zum Hafen fahren. Das Bergungsunternehmen sollte ihn zum Schiff bringen, um eventuell die Reisepässe und die Schiffspapiere zu bergen.

Der Fahrer hatte uns schließlich ein Hotelzimmer besorgt, wohin er uns brachte. Ich wusste nicht wo wir waren und selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte nicht zum Hafen gehen können, da meine Hose und die Stiefel nass waren. Außerdem wäre das zu anstrengend für die Kinder gewesen. Also blieben wir drei den ganzen ersten Tag im Hotelzimmer. Mathis und Emma spielten mit einem Windelpaket Fußball und später mit den geretteten iPads bis die Akkus leer waren. Ich lag derweil unter dieser dünnen italienischen Bettdecke, fror und wartete darauf, das meine Klamotten trocken wurden. (Später habe ich mir die Fernbedienung für die Klimaanlage besorgt. Damit konnte man auch leidlich heizen.)
Dann rief Thomas an. Er hatte alle Pässe und seine Kreditkarten trocken aus dem Schiff holen können. Die waren in seiner Jacke, die in einer Achterkabine am Haken hing. Da die Bodenbretter aufgeschwommen waren und die Tür blockierten, musste er das Oberlicht einschlagen, um die Jacke herausziehen zu können. (Meine Kreditkarten wurden am nächsten Tag geborgen:)
Das Schiff ist nur bis zur Deckskante untergegangen, weil es auf der Sandbank auflag. Der Kiel war abgebrochen und der Schwell schob es nun in aufrechter Position über den Sand. Durch die ausgebrochenen Löcher der Kielbolzen drang das Wasser und eine große Menge Sand ein. Das Bergungsunternehmen konnte das Schiff für die Nacht stabilisieren.





Der Stand der Dinge war also: Wir waren alle gesund und zusammen. Die Kommunikation stand, da Thomas die Telefone gerettet hatte. Alle Pässe waren da, so dass wir mit der Ausreise keine Probleme hätten. Zumindest Thomas' Kreditkarten waren da, so dass wir Geld hatten, um Essen, Trinken, Hotel, Auto, Zug, Flugzeug zu bezahlen. Die iPads funktionierten, womit Emma und Mathis sich beschäftigen konnten, solange deren Spielzeug noch unter Wasser war. Alles war soweit gut, wir waren in Sicherheit.

Ich lag also auf dem Bett und dachte darüber nach wie es weitergeht. Immer wenn ich dabei an den Punkt kam, die Kinder auf eine normale Schule schicken zu müssen, kamen die Überlegungen ins Stocken. „In eine normale Schule? Wo sie zu Ameisen gemacht werden? Wo wir nicht mehr mitzureden haben wie unsere Kinder erzogen werden? Wo ich gerade die perfekte Schule gefunden habe? Nein, wirklich nicht. (www.deutsche-fernschule.de) In einem Haus wohnen, das einen örtlich festnagelt? Weiterhin einem 9-5-Job nachgehen? Oder: Mit was soll ich mich Selbstständig machen? Und das alles, obwohl wir die Möglichkeit haben etwas spannendes zu erleben? Nee, nicht wirklich.“
Wie auch immer, am Ende des Tages stand jedenfalls fest, dass wir über diesen Schock hinwegkommen müssen, weil wir auf jeden Fall unseren ursprünglichen Plan weiter verfolgen werden.

Der Plan ist ab Juli 2016 auf einem Segelschiff zu leben und die Welt zu umsegeln.

Nachtrag: Wegen Totalschaden hat die Versicherung uns schon nach 3 Monaten den gesamten Versicherungsbetrag erstattet und das Wrack verkauft.
Sechs Monate nach dem Unfall haben wir unsere Elli gefunden.